Am ersten Septemberwochenende 2022 war endlich Schluss mit den Fegefeuern von Mindestabstand und Kontaktverbot. Die Götter der unendlichen Beschleunigung öffneten erneut die Bibel der Geschwindigkeit und riefen zum Glemseck 101 – einem der größten Motorradtreffen Europas, bei dem sich alles um handgemachte Motorräder und Beschleunigungsrennen dreht. Und die Jünger der Hastigkeit kamen.

Das sogar in solchen Mengen, dass Sonntag Mittag die Autobahnausfahrt Leonberg wegen des großen Andrangs gesperrt wurde. Kaum zu glauben, dass der Grund für den Ansturm von Motorrad-Aficionados ursprünglich ein gänzlich unmotorisierter war. Ein Seifenkistenrennen, gesponsert durch einen bekannten Energydrink-Hersteller, sollte Anfang der Nuller-Jahre auf der ehemaligen Solitude Rennstrecke in Leonberg stattfinden. Aus der Taurin und Zucker Orgie für Sperrholzvehikel wurde letztendlich nichts, brachte aber die richtigen Leute und Ideen zusammen. Die Folge war 2006 die erste Auflage des Glemseck 101 als unabhängige und markenfreie Motorradveranstaltung. Frei von kommerzialisierter Markenanbetung und Gruppenzugehörigkeit sollte die Individualität des heiligen Blechles und natürlich die Vielfältigkeit der Fahrerinnen und Fahrer zelebriert werden.

Dass dies gleichzeitig mit dem Aufkommen der Café Racer und Custom Couture Bewegung geschah, stellte sich im Nachhinein als Verkettung glücklicher Umstände heraus. Es sollte nicht lange dauern, bis das Glemseck 101 das Nischenveranstaltungskorsett für Hipster und Zwei-Ventil-Archäologen abstreifen konnte und seither regelmäßig Zehntausende Besucher aller Couleur anzieht. Maultaschen und Motorradgottesdienst, kleine Customschmiede neben großer Marke oder Händler mit Zweiradnippes Zeltwand an Zeltwand mit den unterschiedlichsten Vereinen und Initiativen rund ums Zweirad. Es gibt immer etwas zu entdecken, wenn einen der Kuschelfaktor entlang der schmalen und überlaufenen L1887 durch das Mahdental nicht stört.

Glemseck 101 -2022

Absoluter Hingucker in diesem Jahr waren sicher die Mofas der Eidgenossen von Siggnature Bikes. Einen 7-Zylinder-Sternmotor aus dem Modelflugzeugbau mit 160 Kubikzentimeter und 10 PS als Kraftspender zu verbauen, verwischte selbst für Glemseck-Veteranen erfolgreich den schmalen Grat zwischen Genialität und Wahnsinn. Unweit davon hatte die Walter Kölle GmbH ihre Harley mit Beiwagen aufgebaut. An sich nichts Besonderes, würde es sich bei dem Gespann nicht um ein offizielles Bestattungskraftfahrzeug handeln und der Beiwagen ausschließlich für die letzte Fahrt von Sarg oder Urne fungieren. Befremdlich im ersten Moment, aber mit Sicherheit der stilvollste Abgang, den man als Motorradfahrer haben kann. So entgegengesetzt diese beiden Facetten des Glemseck auch waren – sie zeigten eindrucksvoll wie bunt und vielfältig das Glemseck auch nach der Coronapause noch ist.

Glemseck 101 - 2022

Epizentrum der süddeutschen Kultveranstaltung waren wieder die Sprintrennen direkt an der Start- und Zielgeraden der Solitude. Beschleunigungsrennen der alten Schule mit Flaggirl, Burnouts – schwäbisch korrekt auf eigener Brennplatte – und was sonst so alles dazugehört. Angetreten wurde wie in der Vergangenheit in den verschiedensten Klassen und Wettbewerben. Kawasaki schipperte mit ihrem „Trackinator“ einen ordentlich aufgemuskelten Z H2 Umbau durch die Achtelmeile, während BMW gleich eine Rotte brachial-rustikal aufgehübschter R18 Sternzerstörer über den Asphalt grollen ließ. Trotz des ganzen Konzerneisens brauchte sich der Rest des Starterfeldes keineswegs zu verstecken.

Beim Rocket Race Club, Nachfolger der berühmt-berüchtigten Sultans Of Sprint Rennserie, zeigten die Soloschrauber und kleinen Tuningschmieden, was jenseits großer Marketingbudgets mit bedingungsloser Hingabe und Schmierölsucht möglich ist. Bei soviel handgehäkelter Beschleunigungsmasse ließ sich auch die Sintflut am Samstag verschmerzen, die den Zeitplan ordentlich durcheinanderwirbelte. Gut, dass die Götter der Beschleunigung nicht allzu nachtragend waren und es bei dem kurzen und heftigen Sündenerlass beließen. [Text und Fotos: Stefan Thiel @ www.stefan-thiel.info]