Während sich die Motorradsaison so langsam dem Ende zuneigt, wurde vor den Toren Stuttgarts noch einmal kräftig Gas gegeben. Mehr als 40.000 Besucher strömten am ersten Septemberwochenende nach Leonberg, um auf dem Glemseck 101 nochmal ordentlich Motorrad zu feiern. Marke und PS? Egal! Leder oder Membrankombi? Interessiert niemand! Hauptsache zwei Räder und irgendwo dazwischen wird kontrolliert Kraftstoff zur Explosion gebracht.

Auch in der 16. Auflage widersetzt sich das Glemseck 101 hartnäckig allen Kategorisierungsversuchen. Die Veranstalter sprechen diplomatisch von einem „markenübergreifenden Motorrad-Event“, während wahnwitzige Schrauber auf üppig bemessene Marketing- und Werkstattbudgets großer Motorradhersteller treffen, Rock’n’Roll Konzerte neben Gottesdiensten funktionieren und man Sprintrennen sowohl mit einer dreistelligen PS-Zahl, als auch Papas ollem Mofa fahren kann. Im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte hat sich auf dem Glemseck 101 eine Melange aus den verschiedensten Motorradströmungen und -überzeugungen gebildet, in der sich jeder wiederfindet, der Motorrad als Lebenseinstellung wahrnimmt.

Dabei hatte der Anfang der Kultveranstaltung rein gar nichts mit motorisierten Zweirädern zu tun. Ein Seifenkistenrennen auf der historischen Rennstrecke Solitude, die sich an der namensgebenden Landmarke Glemseck vorbeiwindet, sollte es werden. Klappte nicht, warum aber nicht ein Motorradtreffen an der Stelle aufziehen, die sowieso schon einen Ruf als Bikertreffpunkt hat? Das fiel praktischerweise mit der gerade aufkeimenden Selfmade- und Café Racer-Kultur zusammen, die in der marken- und ideolgiefreien Substrat ideale Wachstumsbedingungen fand. Die „schicken Kischdle“ definieren mit den Rennen über die Achtelmeile bis heute den größten Teil der Glemseck-DNA.

X23_0679

Natürlich haben in der Zwischenzeit auch die großen Marken das Potential entdeckt, dass in Veranstaltungen wie dem Glemseck 101 schlummert. Die bringen daher neben verschiedenen Customizing-Perlen auch gleich ihre ganze Modellpalette mit. Start und Landung zur Probefahrt machen wegen des großen Andrangs entlang der schmalen Landstraße zwar nicht allzuviel Spaß, werden aber klaglos in Kauf genommen. Der Kuschelfaktor gehört zum Glemseck mit dazu, schließlich gibt es einiges zu sehen und zu entdecken. Auf der drei Kilometer langen Verkaufsmeile finden sich über 100 Händler, Initativen und Vereinigungen die sich alle irgendwie mit dem „heiligen Blechle“ auf zwei Rädern beschäftigen.

X23_9799

Richtig spannend wird es am ehemaligen Start- und Zielturm der Solitude, unweit des brodelnden Zentrums des Glemseck 101. Auf knapp 200 Meter, einer Achtelmeile, werden hier Motorradrennen gefahren. Motoren heulen, es riecht nach verbrannten Reifen und weniger gut verbranntem Benzin – hier schlägt das Herz des Glemsecks! In den verschiedensten Klassen und Kategorien kommt nur der Schnellste einer Paarung weiter, ganz im Stil der Beschleunigungsrennen die in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Was sich dabei an der Startlinie aufreiht, könnte unterschiedlicher nicht sein. Liebevoll selbst gebastelte V2-Boliden wechseln sich mit Mofas ab, Café Racer der alten Schule buhlen mit Starrahmen-Konstruktionen oder hochgezüchteten 80-PS-Vespas um die Gunst des Publikums. Individualität ist hier Trumpf, Hauptsache der fahrbare Untersatz ist ordentlich schnell. Das zeigt vor allem der Rocket Race Club. Der Nachfolger der berühmt-berüchtigten Sultans Of Sprint Rennserie, ist ein Beispiel dafür, was man auch ohne großes Budget beim Motorradschrauben in der Hinterhofgarage erreichen kann. [Text und Fotos: Stefan Thiel @ www.stefan-thiel.info]